Hallo Nicole Büttner!

Warum ist der Fosbury Flop eine Sprunginnovation? Was genau steckt hinter Deep Learning? Und überhaupt: Wo sind die Gründerinnen?
Erzählen Sie doch mal.

WAS MACHEN SIE PROFESSIONELL SO DEN GANZEN TAG? IN WELCHEM FELD/IN WELCHER DISZIPLIN GENAU ARBEITEN SIE?

Mein Ziel ist es, künstliche Intelligenz in den Dienst von Menschen, Unternehmen und der Gesellschaft zu stellen und nützliche Anwendungen für diese Technologie zu finden und umzusetzen. Das heißt, im Alltag bin ich im engen Austausch mit Unternehmen und Anspruchsgruppen aller Art und versuche zu verstehen, welche Probleme dort gerade relevant sind, um zu sehen, wie wir dem mit unserem „KI-Werkzeugkasten“ begegnen können. Dort geht es beispielsweise um Themen wie Verarbeitung von Satellitendaten für Zwecke der Erdbeobachtung, automatische Befundung von Röntgenaufnahmen, Eliminierung von Gender-Bias in Bewerbungsprozessen bis hin zur Teilautomatisierung von Produktionsspezifikationen in der verarbeitenden Industrie (z. B. CNC-Fräsen).

WIE KAM ES DAZU, DASS SIE SICH AUSGERECHNET FÜR DIESES FELD/DIESE DISZIPLIN SO INTERESSIERTEN? WANN FING DAS AN? WIE GING ES WEITER?

Mein Weg ins Thema „Künstliche Intelligenz“ war nicht linear. Ich habe VWL und Ökonometrie studiert - also sozusagen “Old school data”. Nach vier Jahren in der Finanzbranche in Paris habe ich in Palo Alto bei Auctionomics, der Firma eines meiner ehemaligen Stanford-Professoren, dem Nobelpreisträger Paul Milgrom, das Business Development und Projektmanagement geleitet. Dort kam ich zum ersten Mal mit Software-Entwicklung in Kontakt. Wir haben dort auf dem Gebiet der Spieltheorie Auktionen entworfen und in Software implementiert. Und dort kam auch maschinelles Lernen zum Einsatz – dann war ich angefixt. Danach habe ich parallel zur Gründung meines ersten Unternehmens ein wenig mehr Coden gelernt und mich mit Deep Learning auseinandergesetzt und mir online im Selbststudium die Grundlagen angeeignet. Ich code bis heute nicht, sondern nehme vielmehr eine Übersetzerfunktion ein, die technisches Verständnis erfordert und damit relevante Probleme in der Industrie angeht.
Nicole Büttner
Nicole Büttner
WELCHE KARRIERE-STEINE LAGEN IHNEN IM WEG UND WIE HABEN SIE DIE WEGGERÄUMT?

Ich bin grundsätzlich ein sehr optimistischer Mensch und würde nicht sagen, dass mir Steine im Weg lagen. Was ich jedoch über mich herausgefunden habe, ist, dass die Menschen um mich herum entscheidend sind, damit ich in meinem Element sein kann - ich will von ihnen lernen, ihnen vertrauen, in einem wirklichen Team arbeiten. Das habe ich rückblickend erst lernen müssen und war deshalb nicht immer zu 100 % in meinem Element. Für mich hat das aber mehr mit radikaler Selbstentdeckung als mit „externen“ Hindernissen zu tun.

EMPFANDEN SIE IHR GESCHLECHT FÜR IHRE KARRIERE ALS VORTEIL, NACHTEIL ODER NEUTRAL?

Ich finde es immer wieder schade, dass wir im Jahr 2021 immer noch über diese Frage sprechen müssen. Eigentlich sollte mein Geschlecht keine Rolle spielen - in der Realität tut es das. Als ich für meine erste Firma mit Investoren sprach, fragte mich zum Beispiel einer der potentiellen Investoren, wie viele Anteile ich abgeben würde, wenn ich ein Kind kriegen würde. Ich war absolut geschockt und habe sein Geld natürlich auch nicht genommen. Man muss also konstatieren, dass die Leute oft noch im Kopf haben, dass Frauen Kinder und Karriere weniger gut vereinen können als Männer. Das macht mich rasend.

Gleichzeitig gibt es tolle Vorbilder. Einer der Mitgründer von Merantix, Adrian Locher, hat zwei Kinder und nimmt sich die Zeit, sie zur Kita zu bringen und abzuholen. Natürlich setzt er sich dann abends nochmal hin. Ich feiere das - denn damit setzt er für alle in der Firma ein Beispiel, dass es natürlich vereinbar mit seiner Rolle ist und auch OK, wenn andere Eltern - ob Frauen oder Männer - es ihm gleichtun.
Ich hoffe, dass es bald mehr davon gibt. Denn auf diese Weise schaffen wir es hoffentlich, schneller mehr Frauen als Gründerinnen auch im Technologiebereich zu sehen.

WAS TREIBT SIE AN UND WEITER? (WAS SORGT FÜR IHRE VERTIKALSPANNUNG?)

“There is nothing noble in being superior to your fellow man; true nobility is being superior to your former self.” (Ernest Hemingway)

Ich bin eigentlich immer angetrieben von meiner Neugier und dem Bedürfnis, nicht stehenzubleiben und sowohl mich selbst als auch Themen in der Welt in Bewegung zu halten und zu bringen. Eines dieser Themen ist für mich beispielsweise, wie wir es schaffen KI für den Mittelstand wirklich in der Anwendung nutzbar zu machen.
WELCHE SPRUNGINNOVATION HAT SIE AM MEISTEN BEEINDRUCKT?

Der Fosbury Flop. Bevor Dick Fosbury anfing, im Hochsprung in Rückenlage zu springen, nutzen alle den Scherensprung. Als er damit begann, diese Technik auszuprobieren, lachten ihn die übrigen Athleten aus. Doch dann sprang er bei den Olympischen Spielen in Mexico City 1968 damit zur Goldmedaille und brach den amerikanischen Rekord. Heute kennen wir keine andere Technik mehr im Hochsprung. Für mich ist es mit das beeindruckendste Beispiel, herkömmliche Herangehensweisen komplett neu zu denken und disruptiv zu ändern. Eine Sprunginnovation also im doppelten Sinne :)

WIE SEHEN SIE DIE INNOVATIONSKULTUR UND -LANDSCHAFT IN DEUTSCHLAND (UND IN EUROPA)? WAS LÄUFT GUT? WAS LÄUFT NICHT? WAS BRAUCHEN WIR IN DEUTSCHLAND, UM MEHR ERFOLGREICHE INNOVATIONEN HERVORZUBRINGEN?

Ich glaube prinzipiell bringt Deutschland und auch ganz Europa viel mit, was für Innovationskultur wichtig ist. Aufklärerische Werte wie Emanzipation, Bildung, Menschenrechte, klar geregelte Eigentumsrechte sind aus meiner Sicht fruchtbarer Boden für Innovation. Ich denke Verbesserungspotential gibt es bezüglich Geschwindigkeit und Fokus. Manchmal ist das föderale Gießkannenprinzip, in dem überall dezentral kleine Initiativen entstehen, die für sich Hoheitsanspruch haben, glaube ich, nicht hilfreich. Wir müssen ambitionierter und in verstärkten Synergien und Netzwerken denken und all diese Mittel und Menschen bündeln.

WO/IN WELCHEM SEKTOR/FELD/BEREICH FEHLT ES BESONDERS AN INNOVATIONEN?

Ich finde, ein großer weißer Fleck besteht noch in vielen staatlichen Funktionen, also zum Beispiel Bildung, aber auch viele andere bürgernahe Dienstleistungen. Da geht noch mehr. Lasst es uns anpacken!
Nicole Büttner
Nicole Büttner
IST ES WICHTIG, WISSENSCHAFTLERINNEN UND INNOVATORINNEN ANDERS UND STÄRKER ZU UNTERSTÜTZEN? HABEN SIE IDEEN DAZU?

Wir sind pro Kopf im Vergleich zu China und USA ein sehr innovativer Standort. Leider schaffen wir es nicht, daraus kommerziell erfolgreiche Firmen zu machen. Ich denke diese Übersetzung von wissenschaftlicher Innovation in innovative und transformative Geschäftsmodelle ist ein Punkt, an dem wir noch mehr unterstützen können. Bei Merantix versuchen wir dies auf dem AI Campus in Berlin zu ermöglichen, den wir im April 2021 eröffnen werden. Dort bringen wir rund um KI-Startups Wissenschaftler, Firmen, Investoren und Behörden zusammen, um möglichst viele Synergien zu heben.

WELCHE SPRUNGINNOVATION WOLLEN SIE UNBEDINGT VERWIRKLICHT SEHEN? / WELCHES GROSSE PROBLEM WÜRDEN SIE GERNE LÖSEN?

Mich bewegen vor allem Themen, die den Menschen in den Fokus rücken. Für mich besonders spannend sind zwei Themen. Zum einen wie wir mit den Ressourcen auf unserem Planeten umgehen - sei es zur Forschung und Herstellung alternativer Energiequellen und Materialien, in der besseren Nutzung oder der Optimierung bestehender Produktions- und Mobilitätslösungen. Zum anderen, wie wir mehr Menschen Zugang zu noch besserer Gesundheitsversorgung verschaffen. Dort sind Personalisierung von Therapien, bessere Vorhersagen bei Medikamentenzulassungen aber auch die Bereitstellung durch teilweise Automatisierung von Befundungen und Therapien große Hebel.

Ich bin der festen Überzeugung, dass KI dort eine wichtige Rolle spielen wird - let’s do it!
NICOLE BÜTTNER ist Unternehmerin, Wirtschaftswissenschaftlerin und Tech-Optimistin. Ihre Leidenschaft ist es, neue Technologien für Unternehmen und Menschen nutzbar zu machen. Nicole ist Mitgründerin und CEO von MerantixLABS, einem führenden Unternehmen für KI-Lösungen, und Mitglied der Geschäftsleitung von Merantix. Zuvor gründete sie zwei Unternehmen im Bereich des maschinellen Lernens und der Datenanalytik.

Nicole setzt sich leidenschaftlich dafür ein, digitale Technologien in die Verwaltung zu bringen und die richtigen Weichen für einen florierenden Technologiesektor in Europa zu stellen. Sie ist Digital Leader beim World Economic Forum und wurde vom Aspen Institute als Young Leader nominiert. Nicole wurde als Ökonomin und Ökonometrikerin an der Universität St. Gallen, der Stockholm School of Economics und der Stanford University ausgebildet und hat einen MA in Quantitative Economics and Finance.