Innovation braucht Kunden. Der Staat muss seine Einkaufshebel stärker nutzen. Denn die Gesellschaft profitiert dann stärker als gedacht.

STAATSEINKAUFS­MACHT

Die amerikanische Innovationsagentur DARPA hat einen Wettbewerbsvorteil, den wohl keine andere Forschungsförderinstitution der Welt auch nur annähernd in vergleichbarem Umfang bieten kann: die Einkaufsmacht des US-Militärs. Die seit Jahrzehnten eingeübte Praxis am Übergang vom Prototyp zur Serie sieht dort, etwas grobkörnig dargestellt, wie folgt aus. Wenn ein DARPA-gefördertes Start-up einen neuen Laser oder ein neues Material mit Tarnkappeneigenschaften bis zur Vorserienreife entwickelt hat, dann bestellt die US-Army, die Navy oder die Air Force schon mal eine ansehnliche Menge. Die Bestellung wird zu einem Zeitpunkt ausgelöst, an dem der Besteller noch nicht zu hundert Prozent sicher sein kann, dass das junge High-Tech-Unternehmen tatsächlich das Produkt zum vereinbarten Zeitpunkt in der definierten Qualität liefern kann. Das ist dann für den Liefernden keine Endzeitkatastrophe. Denn der Kaufvertrag sieht vor, dass genau das passieren kann. Die Beschaffer des Militärs gehen mit ins Risiko, denn die DARPA-Praxis der letzten Jahrzehnte hat gezeigt: Erstens wird der Entwicklungsprozess deutlich beschleunigt, wenn der Kunde den Auftrag erteilt hat. Zweitens sind die Ausfallquoten bei Weitem nicht so hoch, wie skeptische Kaufleute vermuten würden.

Überleben im „Tal des Todes“

Der erste Volumenauftrag schafft für den Lieferanten nicht nur Planungssicherheit. Er erhöht auch die Motivation in den Entwicklungsteams und ermöglicht oft, mit einem ersten militärischen Lead-Kunden die Technologie zu dem nötigen technischen Reifegrad zu entwickeln und zu vergünstigen, dass sie auch für eine breitere Kundschaft im zivilen Sektor interessant wird. Private Investoren lieben dieses Doppelpack: Finanzierung der vorkommerziellen, riskanten Produktentwicklung durch DARPA und ein gefülltes Auftragsbuch sind Wasser auf die Excel-Mühlen der Investmentmanager. Und so gewinnt die Technologie genau den Schwung, den sie zum Übergang der kommerziellen Verwertung braucht.

Wir Deutschen fremdeln oft mit dem Ansatz, militärische und zivile Innovation parallel zu denken. Das hat viele Gründe, darunter historische, und die Bundesagentur für Sprunginnovationen ist ja auch sehr bewusst ohne Anbindung an die Bundeswehr gegründet worden. In unserem kulturellen Kontext ist diese Trennung sinnvoll, denn die Akzeptanz einer Innovationsagentur würde zu stark leiden. Natürlich lässt sich auch die komfortable Situation der DARPA mit einem Stammkunden mit nahezu unendlich tiefen Taschen und sehr geringer Preissensitivität auf Europa ohnehin nur bedingt übertragen. Das sollte uns nicht daran hindern anzuerkennen, wie hilfreich es für Sprunginnovationen ist, wenn staatliche Institutionen radikale Innovation nicht nur als Förderaufgabe begreifen, sondern direkt als Abnehmer in hochinnovativen Anwendungen investieren – und zwar nicht nur in militärische. Denn dann überleben Innovationen öfter das sogenannte „Tal des Todes“.
Die etwas martialische Metapher beschreibt die Phase, in der zwar erkennbar wird, dass aus einer Idee eine Sprunginnovationen werden kann, aber Investoren zögern, weil keine Kunden in Sicht sind und der Weg zum marktreifen Produkt immer länger ist als erhofft. Für sinnvolle Praktiken innovationsorientierter Beschaffung müssen wir auch nicht zwingend in die USA oder nach China schauen, wo der Staat als Abnehmer von Hochtechnologie entlang seiner Hightech-Strategien zum Geburtshelfer ganzer Industrien wird.

Der französische Staat bestellt in großem Stil bei französischen Anbietern Cloud-Dienstleistungen, die noch in der Entwicklungsphase sind, und zwar sowohl bei digitalen Start-ups wie New Vector als auch bei Industriekonsortien wie Dassault Systèmes und OVHcloud mit einer Government-Cloud. Der finnische Staat erteilte 2020 dem deutsch-finnischen Quanten-Start-up IQM einen Auftrag im Wert von 20 Millionen Euro für ein Produkt, das es noch nicht gab: einen Quantencomputer, der mit Unterstützung vom Bundesforschungsministerium nun auch in die Höchstleistungsrechner-Infrastruktur am Leibniz-Rechenzentrum integriert wird. Beim deutschen KI-Übersetzungsdienst DeepL war es die schweizerische Bundesverwaltung, die sehr früh einen Großauftrag erteilte und sich auch gerne als Referenzkunde nennen ließ, was DeepL beim Marketing nutzte. Zugegeben: Deutschland hat nicht vier Amtssprachen. Aber es ist dennoch auffällig, dass ähnlich wie in der staatlichen Forschungsförderung auch bei der staatlichen Beschaffung eher Kontrolle, Vorsicht und Absicherung die Entscheidungsprozesse dominieren, Vertrauensvorschuss mit dem Ziel der Innovationsermöglichung und Beschleunigung aber nur selten eine harte Währung sind.

Ob bei Cybersecurity für die Bundeswehr, Prognoseanwendungen des Maschinellen Lernens für die Bundes- und Finanzverwaltung oder Quantentechnologien für verschlüsselte Kommunikation – der Staat kann hier als Erstkunde zugleich investieren und als Anwender profitieren. Interessanterweise haben die EU und das deutsche Wirtschaftsministerium dafür auch schon eine Beschaffungsart entwickelt, die »präkommerzielle Auftragsvergabe« oder »Pre-Commercial Procurement«. Leider wird diese, obwohl es sie seit mehr als zehn Jahren gibt, nicht häufig genutzt. Die Botschaft ist auch durchaus bei Hightech-interessierten Politikerinnen und Politikern angekommen. Die Jahresgutachten der EFI nehmen das Thema immer wieder auf. Unsere Wahrnehmung ist: Das ist schön, aber man sollte sprunginnovationsorientierte Beschaffung noch deutlich größer und über digitale Hochtechnologie hinausdenken.

Aufträge statt Fördermittelchen

Vor der Corona-Pandemie flossen rund 35 Prozent der deutschen Staatsausgaben in öffentliche Aufträge. Das waren jährlich rund 500 Milliarden Euro. Diese Zahl wird in den kommenden Jahren nochmals steigen. Das ist sehr viel Geld, zum Teil sicher gut in Bildung und Gesundheit und Infrastruktur angelegt. Aber warum traut sich der Staat nicht einmal, 250 000 Wohnungen zum Preis von 1800 pro Quadratmeter bei angemessenen Umwelt- und Brandschutzstandards zu bestellen, um diese dann sozialverträglich zu vermieten? In anderen Hochlohnländern lässt sich zu diesem Preis auch Wohnraum schaffen, warum nicht bei uns? Vielleicht muss man diese Herausforderung Bauinnovatorinnen überlassen, und nicht Baulöwen oder kommunalen Wohnbaugesellschaften. Die Grundstücke könnte der innovative Auftragnehmer von Kommunen, Land und Bund günstig bekommen. Oder warum kauft der Bund nicht 100 000 Stromtankstellen? Oder 5000 Kilometer Autobahn mit kälte- und rissfestem Straßenbelag ohne Mikroplastik, der nicht alle paar Jahre erneuert werden muss, als ob ihm eine Sollbruchstelle eingebaut sei? Vielleicht mag die öffentliche Hand auch ein paar Hochhäuser oder Brücken ohne Stahlbeton oder ein paar riesige CO2-Fänger bestellen?

»Damit deutsche Start-ups Konzerne werden, brauchen sie keine Fördermittelchen, sondern Aufträge. Wenn Staat und Industrie Vertrauensbeweise erteilen, statt Warnsignale zu setzen, dann wird auch das Finanzierungskapital folgen«, kommentiert die Techexpertin des Handelsblatts Larissa Holzki. Dem können wir uneingeschränkt zustimmen und möchten, bezogen auf innovationsorientierte Beschaffung, ergänzen: Erinnern wir uns an den Sommer 2020. Großbritannien, die USA und Israel erteilten den Unternehmen AstraZeneca, BioNTech/Pfizer und Moderna zügig und unbürokratisch Milliardenaufträge für Impfdosen. Sie bauten keine Absicherungsklauseln für sich ein, sondern entbanden die Hersteller zum großen Teil von der Haftung für eventuelle Nebenwirkungen. Die britischen, amerikanischen und israelischen Beschaffer wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, wie wirksam und sicher die Impfstoffe waren und ob sie jemals zugelassen würden. Die europäische Beschaffungsbürokratie ging den Beschaffungsprozess mit gewohnter Absicherungsmentalität an. Das Ergebnis dieser innovationsfeindlichen und kurzsichtigen Risikominimierungsstrategie der EU-Kommission hat Europa, wie wir alle heute wissen, sehr teuer bezahlt.

In den wochentäglich auf Zeit Online erscheinenden Känguru-Comics des Lesebühnenautors und Kleinkünstlers Marc-Uwe Kling gibt es die Serie Elon and Jeff on Mars. Musk und Bezos leben in einer gemeinsamen Marsstation. Es ist unklar, wer die Station gebaut hat. Aber die beiden Superegos streiten sich in ihr trefflich um die Vorherrschaft. Sie haben beide Angst, dass Google vor ihnen mit Rovern den Mars vermisst. Bisweilen nehmen sie auch schon mal die erste Jupitermission ins Auge. Das ist in unserer Wahrnehmung hochgradig komisch. Bis Drucklegung dieses Buchs wurde leider noch nicht thematisiert, wie Elon und Jeff auf dem Mars über die Auftragsvergabe der staatlichen Weltraumagentur NASA wetteifern. Die Realität liefert reichlich Stoff. Die nächste Mondfähre darf Elons Musk Firma SpaceX bauen, obwohl die neue Trägerrakete in der Entwicklungsphase regelmäßig explodierte. Bezos muss wohl auf eigene Kosten zum Mond fliegen. Wir sind sicher, Kling fände auch zu diesem Streit einen humorigen Zugang. Vielleicht wäre dieser Comic auch geeignet, in Deutschland und Europa ein besseres Verständnis dafür zu fördern, warum ein unternehmerischer Staat der Wegbereiter für radikale Innovation auf der Erde sein kann. Ganz irdisch und volkswirtschaftlich betrachtet fällt dabei auf: Der Staat kann aus drei Gründen diese Rolle besser einnehmen als der Markt.

Erstens hat der Staat viel geringere Kapitalkosten als private Investoren. Der Unterschied wir umso größer, je risikoreicher die Investition in Innovation ist. In mittlerer Zeitperspektive von bis zu zehn Jahren kann der deutsche Staat heute realistischer Weise Kapital zu einer Zinslast von zwei bis drei Prozent investieren. Risikokapitalanleger fordern mindestens zehn Prozent und zusätzliche »Hebel«, wenn sie denn überhaupt bereit sind, ausreichend langfristig ihr Kapital einzusetzen. Hiermit wären wir beim zweiten Punkt. Echte Sprunginnovationen benötigen meist eine Entwicklungszeit, die sich nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten misst. Nur der Staat hat hier das Durchhaltevermögen, und nur er kann helfen, dass Unternehmen es entwickeln.

Rückflussmodell als Annäherungsformel

Der mit Abstand wichtigste Unterschied bei der Investition in Sprunginnovation zwischen Staat und Kapitalmarkt ist aber das Rückflussmodell. Der Kapitalmarkt kennt hierfür nur eine Größe, nämlich Gewinn, die Vermehrung des investierten Geldes, in möglichst kurzer Zeit. Wenn der unternehmerische Staat zielgerichtet und missionsorientiert in Innovation investiert, kann das auch rein monetär in gutes Geschäft sein. Im Juni 2020 beteiligte sich die Bundesrepublik mit 300 Millionen an CureVac. Die Anteile sind heute ein Vielfaches wert, vor allem wegen vielversprechender Ansätze für die Krebstherapie. Und klar: Innovative Unternehmen zahlen Steuern, die staatlich umverteilt oder reinvestiert werden können.

Doch die staatlich-gesellschaftlichen Rückflüsse sind eben noch deutlich vielfältiger als jene von Risikokapitalisten. Aus gesellschaftlicher Perspektive bringen sie zusätzlich bessere Bildung und gute Arbeitsplätze. Sie können uns helfen Umwelt- und Klimaziele zu erreichen und ein insgesamt höheres Wohlstandniveau zu erzeugen. Und nicht zuletzt kann Innovation zu mehr Teilhabe für alle gesellschaftlichen Gruppen führen und gesellschaftliches Glück mehren.

Dies ist leider nur eine Annäherungsformel. Unseres Wissens gibt es bisher kein umfassendes gesellschaftliches Rückflussmodell, das eine sozioökonomische, quantifizierende Gesamtbetrachtung eines »Return on Investments« von staatlich finanzierten und induzierten Innovationen ermöglicht. Ein solches Modell zu erstellen, scheint uns ein zwar schwieriges, aber lohnenswertes Unterfangen für die Innovationsforschung der nächsten Jahre zu sein. Inspiration bei Zielen und Methodik könnten sich die Forschenden bei den sozioökonomischen Bilanzen der Investition in Bildung holen. Hier wissen wir empirisch sauber belegt, dass Investition in frühkindliche Bildung volkswirtschaftlich eine hohe Rendite einfährt. Politik und Gesellschaft bekämen mit einem solchen Modell eine bessere Vorstellung und eine bessere Begründung, warum sich die Investition in Innovation lohnt.

Der Text ist ein leicht angepasster Auszug aus Rafael Lagunas und Thomas Ramges Buch: Sprunginnovation – Wie wir die Welt mit Wissenschaft und Technik wieder in die Balance bekommen. (Econ Verlag, 2021)

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