Schluss mit dem Innovationstheater

Prof. Dr. Katharina Hölzle, Leiterin des Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement der Universität Stuttgart sowie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation, blickt auf den Innovationsstandort Deutschland – und auf die SPRIND als Rollenmodell.

Deutschland ist noch die größte Volkswirtschaft in Europa und international führend mit Blick auf Investitionen in Forschung und Entwicklung. Die verarbeitende Industrie und technologische Innovationen sind ein zentrales Fundament für die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und ein wichtiger Garant für das sozioökonomische Wohlergehen. Dabei spielt die Chemie- und Pharmaindustrie eine bedeutende Rolle, aber auch die Elektro-, Maschinenbau- und Automobilindustrie.

Auf der anderen Seite lässt sich eine fallende Beteiligung insbesondere von kleinen und mittelständischen Unternehmen an der gesamtwirtschaftlichen Innovationsleistung feststellen. Zunächst hervorgerufen durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie und aktuell durch die gesamtwirtschaftliche Unsicherheit, sind die geplanten Ausgaben für neue Maschinen und Anlagen sowie für alle Arten von Innovationsvorhaben stark zurückgegangen.

Weiterhin hat sich Deutschlands Position bei zentralen Schlüsseltechnologien im internationalen Vergleich drastisch verschlechtert, dies insbesondere bei digitalen Schlüsseltechnologien wie beispielsweise Künstlicher Intelligenz, digitalen Sicherheitstechnologien oder in der Mikroelektronik. Doch nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Verwertung passiert in Deutschland viel zu wenig. So liegt die Gründungsquote in Deutschland, also der Anteil der Erwerbsbevölkerung, die in den vergangenen dreieinhalb Jahren ein Unternehmen gegründet hat, laut Handelsblatt mit knapp fünf Prozent auf Platz 41 von 43 Vergleichsländern. Die Zeichen auf Innovation stehen nicht gut und das gibt in einer Zeit, die im Angesicht großer Herausforderungen dringend radikale Lösungsansätze benötigt, großen Anlass zur Sorge.
Katharina Hölzle. Foto: Ludmilla Parsyak Katharina Hölzle. Foto: Ludmilla Parsyak

Bevor ich mögliche Lösungswege skizziere, möchte ich fünf Treiber für die aktuelle Situation nennen:

Die GERINGE DIGITALISIERUNGSRATE, hervorgerufen durch eine sehr heterogene digitale Infrastruktur und allgemein langsame Adaption digitaler Werkzeuge und Dienstleistungen.

Ein NICHT-INKLUSIVES INNOVATIONSSYSTEM: Große Unternehmen und wenige Regionen sind Innovationstreiber in Deutschland.
Der Frauenanteil bei Patentanmeldungen und in den MINT-Bereichen ist im OECD-Vergleich sehr gering. Geringe Innovationsbeteiligung und wenig Dynamik bei Start-ups und jungen Unternehmen.

ZUNEHMENDER FACHKRÄFTEMANGEL, der sich in den vergangenen Jahren stark beschleunigt hat; Experten gehen aktuell von 450.000 bis 600.000 unbesetzten Stellen aus.

FEHLENDER TRANSFER AUS DER FORSCHUNG IN DIE ANWENDUNG, hier insbesondere in die Gründung.
Deutschland hat trotz sehr hoher Investitionen in die universitäre und außeruniversitäre Forschung und Entwicklung eine viel zu geringe Gründungsquote von wissenschaftsbasierten und Deep-Tech-Start-ups.

ZUNEHMENDE FORMALISIERUNG UND BÜROKRATISIERUNG.
Ein immer größerer Anteil der (staatlichen) Forschungs- und Innovationsausgaben fließt in nicht direkt innovationsbezogene Strukturen wie Verwaltung, Administration und Regulatorik.
Das deutsche Streben nach Perfektion, Normierung und Standardisierung war für viele Jahre eine wichtige Zutat auf dem Weg zum Innovationsweltmeister. Deutsche Unternehmen sind in vielen Bereichen Qualitätsweltmeister; der deutsche Weg etwa zur Spaltmaßoptimierung ist bezeichnend. Doch diese Fähigkeiten sind vor allem für schrittweise Innovation wichtig. Das reicht heute nicht mehr - stattdessen brauchen wir radikale Innovation. Und diese spielt nach völlig anderen Regeln: Radikale Innovation braucht Mut, Lust auf Risiko, die Möglichkeit und die Akzeptanz von Scheitern sowie Freiräume zum Ausprobieren. Sie braucht andere Fähigkeiten wie unternehmerisches Denken und Handeln, Kollaboration sowie kritische Reflexion.

Es reicht für Unternehmen und Organisationen nicht mehr, sich einen innovativen Anstrich zu geben, indem hier ein Innovationslab, dort ein Accelerator gegründet oder eine Zusammenarbeit mit einem Start-up oder einer Wissenschaftsorganisation groß angekündigt wird. Diese Initiativen haben in den vergangenen Jahren in den meisten Fällen die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Das liegt vor allem daran, dass Wandel und Innovation nicht wirklich gewollt waren. Denn sie sind anders, sie sind anstrengend, unbequem und daher nicht willkommen. Sie bedeuten, dass vorhandene Strukturen, Prozesse und Arbeitsweisen abgeschafft oder verändert werden müssen. Viele Führungskräfte waren und sind aber nicht bereit, wirklich Freiräume zu geben, ins Risiko zu gehen, existierende Strukturen abzuschaffen und fundamental neu zu denken. Diese Diagnose gilt für Unternehmen, aber auch für politische, Bildungs - und Forschungsorganisationen.

Was muss sich ändern?

Die SPRIND ist für mich Vorbild, Provokation und echte Veränderung.

Wir müssen feststellen, dass dieses Innovationstheater nicht reicht. Wir müssen jetzt aufhören, uns vormachen zu wollen, dass eigentlich doch alles ganz gut läuft, ein paar kleine Veränderungen und Anpassungen ausreichen und unsere Stärken der Vergangenheit auch die der Zukunft sein werden. Stattdessen werden wir uns von Liebgewordenem verabschieden müssen, wir werden verzichten und uns auf bisher nicht Dagewesenes einstellen müssen. Das ist nicht leicht, speziell da uns die Flexibilität, die Resilienz, der Mut und der Umgang mit dem Neuem verloren gegangen sind. Unser Innnovationsmuskel ist schwach geworden und wir müssen schnellstens anfangen, ihn zu trainieren. Was wir jetzt brauchen, ist Lust auf Zukunft, Lust auf Innovation, Lust auf Risiko.

Die SPRIND hat uns in den letzten Jahren gezeigt, wie so etwas funktionieren kann. Wir haben erlebt, wie schwer sich das Establishment damit tut, wie stark die Beharrungstendenzen waren (und sind). Aber der Weg der SPRIND zeigt, dass es möglich ist, althergebrachte Denkweisen infrage zu stellen und sie zu verändern. Die SPRIND war nie Innovationstheater, sie war von Anfang an „echt“. Der Weg der SPRIND war nicht gradlinig und wird es auch in Zukunft nicht sein. Er zeigt uns, dass wir manchmal für einen Schritt vorwärts zwei zurückgehen müssen. Dinge müssen ausprobiert werden, um sagen zu können, das funktioniert und das nicht. Strukturen und Institutionen können sich verändern, auch wenn zu Beginn alle (bis auf einen) sagen, das geht nicht. Die SPRIND ist für mich Vorbild, Provokation und echte Veränderung.

Wir wissen aus der Innovationsforschung, dass radikale Innovationen dann passieren, wenn nichts anderes mehr geht. Innovationsschübe kommen in Zeiten der Krise. Gibt es den einen, wahren Weg dorthin? Nein, den gibt es nicht. Wichtig für egal welchen Weg ist eine Kultur, die innovationsfreundlich und veränderungsbereit ist. Dafür braucht es alle Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Wenn diese alle mitgenommen werden und mitgestalten dürfen, bin ich optimistisch, dass wir als Gesellschaft, als Land es schaffen können, die Potentiale, die es in diesem Land gibt, gemeinsam auszuschöpfen, gemeinsam den Weg der Innovation zu gestalten und die großen Herausforderungen, die auf uns warten, mit innovativen Lösungsansätzen anzugehen und eine lebenswerte Zukunft zu gestalten. SPRIND sei Dank, dass wir ein Rollenmodell auf diesem Weg haben.


Gastbeitrag aus den TAT-SACHEN 2021|22.